Schatz, es ist eine Zeitung! - oder FAZPlus will die, Part I.
Wie liest man eine Papierzeitung? Man geht zum Briefkasten und holt die Zeitung, setzt sich mit ihr aufs Sofa oder sonst einen bequemen Sitz, auf dem man die Arme ausbreiten kann, und fängt erst mal an, von vorne nach hinten durchzublättern, um die Artikel zu finden, die man lesen will. Dann springt man zurück zu dem Inhalt, der am meisten interssiert und fängt an zu lesen. Ist man mit dem ersten Artikel fertig, geht man zum nächsten interessanten Artikel und liest den, solange bis die Zeit zum Zeitunglesen aufgebraucht ist. Hat man die Zeitung von gestern noch nicht gelesen, legt man die Zeitung von heute weg, nimmt die von gestern zur Hand und beginnt von vorn. Oder man weis vielleicht noch, dass es da einen interessanten Artikel gab und schlägt den dann direkt auf. Ist man fertig kommt die Zeitung ins Altpapier. Leute, die sehr gründlich sind, legen sich vielleicht noch ein Archiv mit Zeitungsausschnitten an - das ist aber mit soviel Aufwand verbunden, dass es eigentlich nur Leute machen können, die professionell Zeitung lesen.
Insgesamt ein wohlig-analoges Erlebnis: Man bekommt Bewegung, die Papierzeitung braucht platz, sie raschelt so schön beim Aufschlagen, man muss sich Dinge im Kopf merken, man produziert Müll. All das bietet eine digitale Zeitung nicht. Das neue Online-Angebot von Deutschlands immer noch wichtigster Tageszeitung unter dem Namen FAZPlus schafft es allerdings, das offline Leseerlebnis nahezu 1:1 ins digitale zu übertragen - nur die Papier-Haptik und dem Müll muss man sich wegdenken. Die täglichen Ausgaben muss man einzeln herunterladen und öffnen, die Artikel, die man lesen will, behält man am besten im Kopf, denn die eingebaute Merkfunktion ist nicht wirklich brauchbar. Archivierbar sind die Artikel auch nicht wirklich, da man an das Medium FAZPlus App gebunden ist.
Mit anderen Worten, alle Vorteile, die eine digitale Zeitung bieten könnte werden konsequent vermieden: Man könnte das separate öffnen täglicher Ausgaben überflüssig machen: Die Artikel könnten kontinuierlich laden. Wenn man mit den Artikeln von heute durch ist, könnten einfach die gezeigt werden, die man in der Ausgabe von gestern noch nicht durchgeblättert hat. Man könnte die Merkfuktion so gestalten, dass die Lesezeichen, die man beim durchblättern setzt, genutzt werden, um eine personalisierte Ausgabe neu zusammenzusetzen, wenn man die Merkliste aufruft. Man könnte daraus ein persönliches Zeitungsarchiv aufbauen. Aktuell sind die Lesezeichen an die Tagesausgabe gebunden und gehen idiotischerweise verloren, wenn man eine aktualisierte Tagesausgabe neu herunterlädt. Überhaupt treiben solche Aktualisierungen das Prinzip der Papierzeitung ad adsurdum: Stellen Sie sich vor, es liegt nachmittags um drei nochmal eine ganze Zeitung im Briefkasten, weil sich ein paar Artikel verändert haben. Wie finde Sie jetzt raus, welche das sein könnten?
Es mag Argumente geben, Zeitungen auch digital als tägliches Paket mit gut kuratierten Inhalten zu vertreiben - vor allem wenn man den Anspruch hat, nicht hochaktuell sondern mit viel Qualität und Hintergrundinformationen zu berichten. Allerdings wirken Marketingargumente wie “erhalten sie ab 20 Uhr die Ausgabe des nächsten Tages” etwas albern, wenn man nicht deutlich älter als 50 ist. Die Zeitung ist ja offensichtlich fertig. Der einzige Grund, dafür dass die armen Papierabonnenten bis zum nächsten Morgen warten müssen, ist doch, dass die Zeitung gedruckt und aus der Druckerei in Frankfurt zum Briefkasten gebracht werden muss. Deshalb erscheinen Papierzeitungen ja auch in täglichen Paketen - die einzelnen Arktikel per Post zu verschicken, sobald sie fertig sind, würde nur Sinn machen, wenn der Postbote etwa alle zehn Minuten neue Briefe ausliefern würde.
Die hinter Druck und Auslieferung stehende Logistik ist neben dem Journalismus eine zweite Kernkopetenzen von Tageszeitungen - nicht umsonst hat die FAZ immer noch ihre eigene Druckerei. Leider geht diese Kernkompetenz in der digitalen Welt schnell verloren: Bei mir dauerte das herunterladen der täglichen Ausgaben deutlich länger als ein Gang zum Briefkasten. Ja man konnte nicht mal andere Inhalt z.B. von faz.net konsumieren, da die App nicht in der Lage war, den Download im Hintergrund abzuwickeln. Auch wenn meine Internetverbindung nicht die schnellste ist: Was zum ruckelfreien Streamen von Spielfilmen reicht, sollte doch auch für die unterbrechungsfreie Auslieferung einer Zeitung genügen.
Eine dritte Kernkompetenz von Zeitungen ist, was man Zeitungsdesign nennen könnten: Papierzeitungen sind wirklich gut zum Durchblättern geeignet, denn man erfasst sehr schnell, was die wesentlichen Inhalte der einzelnen Artikel sind. Auch das klappt bei FAZPlus nicht wirklich. In der Papierausgabe kann man immer die ersten (oder auch letzten) Sätze eines Artikels lesen. Wenn man nur die Überschrift und wenig Text zeigen kann, ist ein weiterer Schritt erforderlich - wie das geht, kann man sehr schön bei @FAZNET auf twitter sehen, wo die Zeitungsartikel mit 140 Zeichen umschrieben werden, die oft auf den Inhalt neugierig machen. Bei FAZPlus werden einfach die ersten ein oder zwei Sätze gezeigt und der Text wir zum Schluss transparent. Oft kann man daraus nicht entnehmen, ob der Artikel zu lesen lohnt. Statt Neugier erzeugt das eher Frustration.
Nächstes Mal verraten wir, warum die Webseite der FAZ ein deutlich befriedigenderes Leseerlebnis bietet und wie man am besten Online Zeitung liest. Kleiner Hinweis: faz.net ist eine Webseite, die halbwegs schnell lädt, stets aktuelle Informationen bietet, gefühlte 95% der Inhalte der Printausgabe zeigt und nichts kostet. Fazit für heute: Ich persönlich wäre überrascht, wenn sich FAZPlus in der gegenwärtigen Form lange hält.